* 44 *

Die riesige Tür zum Foryxhaus war fast so groß wie die Tür des Zaubererturms. Sie bestand aus dicken Ebenholzbrettern, die von geschwärzten Eisenbeschlägen und langen Nietenreihen zusammengehalten wurden. Eingelassen war die Tür in einen schweren Rahmen, in den Monster und andere seltsame Kreaturen geschnitzt waren, die auf Septimus, Jenna und Beetle herunterglotzten. Die Wolverinenmäntel voller Schnee, standen sie vor dem langen Klingelzug, der einem Eisendrachen aus dem Maul hing, der neben der Tür den Kopf durch den Granit steckte, und nahmen ihren Mut zusammen.
»Also, du weißt noch, was wir ausgemacht haben?«, fragte Septimus Beetle.
»Ja. Du gehst mit Jenna rein, und ich warte draußen. Ich gebe euch drei Stunden nach meiner Uhr, dann klingele ich. Wenn ihr nicht herauskommt, klingele ich jede Stunde, bis ihr kommt. Richtig?«
»Gut.« Septimus reckte den Daumen nach oben.
Jenna fasste nach dem Klingelzug und zog kräftig daran. Tief im Innern des Foryxhauses schlug eine Glocke an. Schweigend standen sie im rieselnden Schnee und warteten ... und warteten.
Nach einiger Zeit, die ihnen wie Stunden vorkam, ging knarrend die Tür auf. Eine kleine, bucklige Gestalt spähte heraus: »Jaaaaaa?«, fragte sie.
Jenna starrte den Türwächter an. Sie musste daran denken, wie sich Silas immer über das Märchenbuch gebeugt und dann mit quiekender Stimme vorgelesen und dazu alberne Grimassen geschnitten hatte. Ein Kichern entschlüpfte ihr.
Der Türwächter blickte leicht pikiert. Normalerweise lachte niemand, wenn er ans Foryxhaus kam. Der Wächter erinnerte Jenna an eine braune Fledermaus. Er war klein, hatte kleine, zusammengekniffene Augen und trug eine eng anliegende braune Maulwurfsfellmütze und einen langen braunen Umhang, der aus irgendeinem kurz geschorenen Pelz gefertigt war. Wie eine Fledermaus klammerte er sich an den Türknauf, als habe er Angst, fortgeweht zu werden.
»Äh ... dürfen wir eintreten?«, fragte Jenna.
»Seiiiiid ih’ angemeldet?«, fragte der Türwächter, der im Türspalt stehen blieb und ihnen den Weg versperrte.
»Angemeldet?«, erwiderte Jenna. »Nein, aber ...«
»Ohne Anmeldung da’f niiiiiiemand ins Haus«, unterbrach sie der Türwächter mit seiner scharfen, quiekenden Fledermausstimme und starrte sie aus seinen kleinen schwarzen Knopfaugen vorwurfsvoll an.
»Dann würde ich uns gerne anmelden, wenn es recht ist«, erwiderte Jenna.
»Seeeeeh’ wohl. Ihr dü’ft he’ein, wenn ih’ euch angemeldet habt. Guten Tag.«
»Aber wie ...« Der Türwächter begann, die Tür zu schließen. »Nein ... warten Sie!«, rief Jenna.
Beetle sprang vor und stellte den Fuß in die Tür. Der Türwächter drückte fest gegen Beetles Stiefel. Ein Kampf entbrannte zwischen Beetles Stiefel und der Tür, doch der Stiefel wurde Zentimeter um Zentimeter zurückgedrängt. Beetle stemmte sich zusätzlich mit der Schulter gegen die Tür, doch der Türwächter war für seine geringe Körpergröße unverhältnismäßig stark. Jenna bekam es mit der Angst. Sie mussten hinein – sie mussten. So kurz vor dem Ziel durften sie sich nicht die Tür vor der Nase zuschlagen lassen. Sie warf sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür und half Beetle, doch die Tür schloss sich weiter.
»Aufhören!«, schrie Septimus. »Wir brauchen keine Anmeldung.« Er hielt dem Türwächter den Questenstein unter die Nase. »Wir haben das hier.«
Der Türwächter hörte auf zu drücken und betrachtete den Stein. Dann musterte er Septimus und fragte misstrauisch: »Wie ... ih’ seid alle auf de’ Queste?«
»Ja«, antwortete Septimus trotzig.
»Typisch. Da wa’tet man Jah’tausende ve’geblich auf einen Leh’ling, und dann kommen gleich d’ei auf einmal.«
Jenna sah den Türwächter verwundert an. Er redete genauso wie Silas damals – er konnte kein R sprechen. Ob Silas von dem Foryxhaus gewusst hatte? War er schon mal hier gewesen?
Der Türwächter musterte sie noch genauer, da bemerkte er, dass Septimus eine grüne Tracht trug. »Du da’fst eint’eten«, sagte er zu Septimus, »abe’ die beiden ande’en nicht.« Jenna geriet in Panik. Septimus durfte nicht allein in das Foryxhaus gehen. Wenn er allein hineinging, würde sie ihn ganz bestimmt nie Wiedersehen. Sie stellte sich vor, wie Beetle und sie Tage, Wochen, sogar Jahre hier draußen warteten und schließlich ohne ihn nach Hause zurückkehrten. Diese Vorstellung konnte sie nicht ertragen. Verzweifelt – und in Erinnerung an den nächsten Teil von Silas’ Gutenachtgeschichte – sagte sie: »Wir fordern das Recht auf ein Rätsel ein.«
Der Türwächter sah sie verdutzt an: »Ih’ fo’de’t was?«, fragte er.
Jenna, der nicht entging, dass Septimus und Beetle sie anstarrten, als sei sie übergeschnappt, wiederholte: »Wir fordern das Recht auf ein Rätsel ein.«
»Das ’echt auf ein ’ätsel?«
»Ja«, antwortete Jenna bestimmt und fest entschlossen, keine Miene zu verziehen – obwohl Beetle nur mühsam ein Prusten unterdrückte.
»Seh’ wohl«, erwiderte der Türwächter mürrisch.
»Dann mal los«, forderte ihn Jenna auf.
Der Türwächter seufzte und begann mit seiner Fistelstimme:
Aus ’nem Ei gemacht bin ich,
Ich habe viel ’ückg’at, doch leide’ kein Bein.
Ich schäl mich wie Zwiebeln, abe’ ganz bleib ich doch.
Bin lang wie ein Mast, abe’ pass in ein Loch.
Was bin ich?«
Jetzt verstand Jenna Snorris Zeichnung. »Eine Schlange«, antwortete sie mit einem Grinsen.
Der Türwächter blickte überrascht und nicht sonderlich erfreut. »Seh’ wohl. Abe’ es kommen noch zwei. Dann wi’d euch das G’insen schon ve’gehen.« Er begann von Neuem:
Tut mi’ mit sanftem D’uck gelingen.
Manch eine’ auf de’ Gass müsst stehen,
Wü’d ich ihm nicht zu Händen gehen.
Was bin ich?«
Jenna wusste es sofort. »Ein Schlüssel«, sagte sie.
Nun ärgerte sich der Türwächter. »Ko’ekt«, sagte er sehr widerstrebend. »Abe’ das nächste we’det ih’ nicht so leicht he’ausbekommen.« Wieder begann er, doch diesmal sprach er viel schneller und flüsterte fast. Sie mussten sich vorbeugen, um ihn zu verstehen.
Bin an die E’de gekettet und kann doch gut fliegen.
Bin da, wo viel Licht ist, und niemals im ’egen.
Bin manchmal seh’ lästig und manchmal ein Segen.
Was bin ich?«
Diesmal war Jenna mit ihrer Weisheit am Ende. Was war noch auf der Karte eingezeichnet? Sie konnte sich an nichts erinnern.
»Ich waaaa’te«, sagte der Türwächter in einem spöttischen Ton. »Du hast eine Minute Zeit für die Antwo’t, dann lasse ich den Questo’ ein. Und nu’ ihn. Ih’ beiden ande’n könnt nach Hause gehen – wenn ih’ dem Mautne’ genug bezahlt.« Er gab ein schreckliches Glucksen von sich.
In ihrer Panik faltete Jenna die Karte auseinander.
»Geschummelt wi’d nicht. Ich sagte, geschummelt wi’d nicht!«, schrie der Türwächter aufgeregt, nahm ihr die Karte weg und begann, sie in Stücke zu reißen.
»Nein!«, schrie Jenna und langte nach der Karte. »Geben Sie sie mir wieder.«
»Jenna«, sagte Septimus und zog sie zurück, »wir brauchen sie doch nicht mehr. Wir müssen Ruhe bewahren und nachdenken.«
»Zwanzig Sekunden«, vermeldete das höhnische Quieken des Türwächters. »Fünfzehn Sekunden ... zehn, neun, acht, sieben ...«
Septimus rief sich Snorris Zeichnung ins Gedächtnis – die Schlange, den Schlüssel, das schraffierte Foryxhaus.
»Vie’, d’ei, zwei...«
Und dann hatte er es.
»Eins ...«
»Schatten!«
Der Türwächter glotzte sie an. Er sagte nichts, doch die Tür sprach für ihn. Sie ließ ein lautes Knarren und Ächzen vernehmen, als er sie aufstemmte, und Septimus trat über die Schwelle. Doch als Jenna Anstalten machte, ihm zu folgen, schloss der Türwächter die Tür wieder.
»Nein!«, schrie Beetle. »Lassen Sie Jenna hinein!« Er sprang vor und warf sich gegen die Tür. Der Türwächter taumelte zurück, die Tür flog auf, und Jenna, Beetle und Septimus stürzten ins Foryxhaus.
Mit einem lauten Knall schlug die Tür hinter ihnen zu.
»Oh nein!«, stöhnte Beetle, der sofort begriff, dass er einen Fehler gemacht hatte. »Ich will raus! Ich will raus!«
Es war zu spät. Die Zeit war aufgehoben.